Körner, Anne
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„Bolivia movil“ - Februar/März 2016
Als das Ende meiner zweijährigen Assistenzzeit in einer Berlin-Mitte-Praxis in greifbare Nähe rückte, packte mich die Lust, eine andere Art von Zahnmedizin zu entdecken, mich herauszufordern, eine andere Sprache und Kultur kennenzulernen und das eben nicht nur als Tourist.
Nach etwas Internetrecherche und der telefonischen Kontaktaufnahme mit Ekkehard, dem Leiter des Projektes, stand ohne viel bürokratischen Aufwand recht schnell fest, dass ich fünf Wochen als Zahnärztin im Projekt „Bolivia movil“ arbeiten würde. Vier Monate vor geplantem Einsatz begann ich mit der Organisation: Flüge buchen, Versicherungslage checken, notwendige Impfungen nachholen (für mich Tollwut, Meningokokken und Gelbfieber) sowie der Besuch eines Spanischkurses (blutiger Anfänger). Nachdem mich Ekkahards Paket mit den mitzunehmenden zahnärztlichen Materialien erreicht, ich alles in dem großen Rucksack verstaut und mich tränenreich von Freund, Freunden und Familie verabschiedet hatte, ging es Anfang Februar los - ins große Abenteuer Bolivien.
Mit Air Europa flog ich von Frankfurt über Madrid und Santa Cruz nach Sucre. Die erste Woche bis zur Ankunft meiner beiden Mitstreiterinnen verbrachte ich im „Hostelling International“ und besuchte einen Spanischkurs. Zugegebenermaßen fühlte ich mich in diesen ersten Tagen ziemlich überfordert. Trotz mehrmaliger Kontaktaufnahme mit dem HI im Vorfeld wusste bei meiner Ankunft anscheinend keiner von mir - eine Reservierung war nicht vorhanden und auch die versprochene Hilfe bei der Buchung eines Sprachkurses fehlte trotz mehrmaligen Nachfragens. Nichtsdestotrotz nutzte ich die Zeit, um mich an die Umgebung und die vollkommen andere Mentalität der Bolivianer zu gewöhnen und mir die zahlreichen Karnevals-Umzüge anzusehen.
Mit der Ankunft der anderen beiden Volontarios Anna und Flavja sowie dem Projektleiter Ekkehard war unser Team komplett. Das Wochenende verbrachten wir mit der Kontrolle und dem Reinigen der mobilen Einheiten und des zahnärztlichen Materials. Mit solch einer Ausstattung hatte ich nicht gerechnet - selbst Kofferdam, mehrere Matritzensysteme, Kompositmaterialien der verschiedenen Anbieter etc. waren vorhanden. Bei gutem bolivianischen Wein
lernten wir uns alle besser kennen, verstanden uns auf Anhieb und konnten letzte Fragen klären.
Die erste Woche arbeiteten wir in einer Schule in einem abgelegenen Stadtteil Sucres. Eine vollkommen andere Welt,
die sich uns da offenbarte. Bereits das erste Erlebnis - die Fahrt auf der Tragfläche eines Pickups durch das wuselige Sucre am Montagmorgen zum Einsatzort sowie der wöchentlich stattfindende Montagsappell in der Schule faszinierten uns. Alle Schüler versammelten sich vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof - die boliviansiche Flagge wurde gehisst, die Nationalhymne gesungen und der Schulleiter hielt eine Rede. Und auch wir wurden als „Dentistas de Alemania“ herzlich willkommen geheißen.
In einem für uns freigeräumten Klassenzimmer bauten wir mobile Einheit, Behandlungsstuhl und all die Materialien auf. Die Kinder waren neugierig und konnten es gar nicht erwarten, auch auf dem Stuhl der deutschen Dentistas zu liegen.
Und was sich uns hier bot, habe ich vorher so noch nie gesehen. Vollständig zerstörte Zähne schon bei den kleinsten unserer Patienten. Wir legten viele Füllungen, extrahierten nicht mehr erhaltungsfähige Zähne, reinigten und versuchten den Schülern die Bedeutung einer regelmäßigen Zahnpflege deutlich zu machen. Zum Abschied bekam jeder noch eine Zahnbürste geschenkt. So verging die erste Woche recht schnell. An die spärlichen Lichtverhältnisse - Ausleuchtung nur mit Hilfe unserer Stirnlampen - die doch recht klägliche Absaugung sowie die nicht vorhandene Hygiene der Schultoiletten hatten wir uns mittlerweile gewöhnt.
Die folgenden drei Wochen unseres Arbeitseinsatzes verbrachten wir in verschiedenen Comunidades (Dörfern) bis zu fünf Stunden von Sucre entfernt. Hierfür hatten wir unseren eigenen Fahrer - Edwin. Er brachte uns jeden Morgen zu den Einsatzorten, kümmerte sich (mehr oder weniger) um Organisatorisches, übernahm für uns häufig die Kommunikation mit den doch sehr schnell sprechenden Einheimischen, fuhr uns am Ende des Tages wieder zurück und zeigte uns „Restaurantes“, in denen wir ohne Gefahr für Magen und Darm „Pollo con Arroz“ essen können.
Das gute Gefühl aus der ersten Woche, herzlich willkommen und gebraucht zu werden, änderte sich recht schnell zu Beginn des „mobilen Einsatzes“. In Cienega erwartete uns eine vollständig eingerichtete „Zahnarztpraxis“ samt
praktizierender Zahnärztin neben einer kleinen Schule mit 40 Schülern. Wofür wird unsere Hilfe hier benötigt? Diese Frage stellte sich die ansässige Zahnärztin wohl auch und wollte uns schon wieder wegschicken. Nach langwierigen Diskussionen zwischen Zahnärztin, Edwin und Ekkehard bauten wir dann doch unsere Einheit auf. Wie sich herausstellte, arbeitete die Zahnärztin nur sporadisch in ihrer Praxis. Vielleicht lag es es auch an den Blutresten und benutzten
Tamponaden auf ihrem Behandlungsstuhl, vor denen sie sich selbst ekelte?! Wir versuchten uns von alle dem nicht unsere Laune verderben zu lassen und füllten, extrahierten, klärten auf und reinigten auch hier die zahlreich erscheinenden Patienten. Die nächsten 2,5 Wochen behandelten wir an sechs verschiedenen Orten, zumeist in Schulen oder in einer kleinen Klinik neben einer Schule. In dieser Zeit wurden wir stets freundlich empfangen und auch der Behandlungsbedarf sowie das Patientenaufkommen blieben unverändert groß. Nur ein einziges kariesfreies Gebiss konnten wir während unseren 5 Wochen zahnärztlichen Arbeitens entdecken! Auffällig jedoch war der etwas bessere Befund, je weiter man in dörfliche Regionen vordrang.
In Woche zwei des mobilen Einsatzes waren wir in einem ehemaligen Waisenhaus in Zudáñez untergebracht. Hier gab es sogar einen funktionierenden Fernseher. Ansonsten aber war nicht viel los, so dass wir zu ausreichend Erholungsschlaf für die Einsätze am nächsten Morgen kamen.
Anschließend wurden wir eine Woche im Internat in Redención Pampa untergebracht. Die Schüler hier waren aufgeweckt und gar nicht mehr so schüchtern. Unser holpriges Spanisch reichte, um einigen von ihnen die Kniffel-Regeln beizubringen, so dass wir neue Spielpartner gefunden hatten.
Die letzte Woche verbrachten wir erneut in einer Schule in Sucre. Hier klappte die Organisation leider nicht ganz so gut, sodass viele Lehrer gar nicht wussten, dass wir da sind und vor allem kostenlos behandeln. Aber nach und nach erhöhte sich aufgrund unseres unermüdlichen Einsatzes das Patientenaufkommen.
Fazit:
Der zahnärztliche Behandlungsbedarf der bolivianischen Bevölkerung ist immens. Die Bedeutung einer täglichen Mundhygiene ist kaum jemandem bewusst. Die Menschen leben in großer Armut, die Mentalität ist eine vollkommen andere als die unsere. Die Arbeit des FCSM mit besonderem Engagement Ekkehard´s ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der dortigen „Zahnverhältnisse“. Ich bin dankbar, ein Teil davon gewesen sein zu dürfen. Nicht nur zahnmedizinisch, sondern auch auf persönlicher Ebene wird mir dieser Aufenthalt wohl für immer im Gedächtnis bleiben.
Jedoch muss klar gesagt werden: Die zahnärztlichen Arbeiten erscheinen häufig nur als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Wie von vielen anderen Volontarios bereits des öfteren erwähnt, spielt eine Aufklärung und das Verankern dieser in den Köpfen der Bolivianer eine bedeutendere Rolle. Auch musste ich lernen, dass die bolivianische (Arbeits-) Einstellung etwas anders ist. An im Vorfeld Verabredetes erinnert sich manchmal keiner, viel Rumstehen ist auch Arbeiten…
Alles kommt anders, aber klappt doch meistens irgendwie. Aber auch das ist eine Erfahrung, für die ich dankbar bin.
Anne Körner