Stahl, Julia
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Huancarani, 11.11.-09.12.2022
Ich hatte mich im Jahr 2020 schon in seinen Bann gezogen, doch hatte der Beginn der Corona Pandemie einen Strich durch meinen zahnärztlichen Hilfseinsatz in Südamerika gemacht. So wollte ich nach meinem Examen einen erneuten Anlauf starten und machte mich als frisch approbierte Zahnärztin auf den Weg nach Bolivien. Wie schon bei meiner ersten Famulatur wollte ich den Hilfseinsatz im Projekt der FCSM (Fundación Clinica Santa Maria) absolvieren. Im Gegensatz zum Einsatz im Jahr 2020, der in einem mobilen Projekt stattfand und auf die Versorgung von Kindern ausgelegt war, konnte ich mich bei diesem Einsatz auf den Komfort von voll ausgestatteten Praxisräumen in Huancarani freuen. Ebenfalls bietet das Consultorio in Huancarani die Möglichkeit zur prothetischen Versorgung, da ein zahntechnisches Labor integriert ist und während meiner Zeit dort zwei Zahntechniker-Meister anwesend waren.
Der Beginn meines Hilfseinsatzes gestaltete sich dieses Mal leider ebenfalls sehr turbulent. Schon vor Beginn meines Einsatzes erhielt ich die Mitteilung, dass die Zahnärztin, mit der ich die meiste Zeit zusammen arbeiten sollte, krankheitsbedingt nicht aus Deutschland abreisen konnte. Am Tag meiner Ankunft wurde dann bekannt, dass der anwesende Zahnarzt ebenfalls krankheitsbedingt am nächsten Tag die Heimreise antreten würde. Die perfekt vom
FCSM zusammengestellte Einsatzplanung kam ins Wanken und mein Einsatz wurde ungewiss. Dennoch wollte ich mit positiven Gedanken in den Einsatz starten und hoffen, dass sich alles zum Guten wenden könnte. Zudem war ich in Huancarani auch nicht alleine, sondern wurde herzlich von Doña Adela und ihren Söhnen Henry und Will, meiner ehemaligen Kommilitonin Lea und den beiden deutschen Zahntechniker-Meistern Ann-Kathrin und Tristan willkommen geheißen.
Am Tag nach meiner Ankunft wurde ich von Lea in die Behandlungsabläufe in Huancarani eingewiesen und wir starteten in zwei gemeinsame Behandlungstage. Glücklicherweise wurde in diesen beiden Tagen das gesamte Behandlungsspektrum abgedeckt, sodass ich mit gutem Gewissen in die kommenden Wochen starten konnte. Zudem wurde ich im Consultorio durch Henry unterstützt, der ein absolutes all round Talent ist! So war er nicht nur eine sehr vorausschauende und flinke Assistenz, sondern er koordinierte auch die Patientenplanung, übersetzte aus Quechua in Spanisch und sorgte mit guter Musik für eine entspannte Arbeitsatmosphäre.
Nachdem Lea ihren Einsatz am Freitag beendet hatte, startete ich am Montag zusammen mit Henry bei großem Patientenandrang in den ersten Behandlungstag. Viele der Patienten waren gekommen, deren Prothesen vor den Weihnachtsfeiertagen und während der Anwesenheit der deutschen Zahntechniker-Meister fertig gestellt werden sollten. So sollten innerhalb der nächsten zwei Wochen noch ca 40 Patienten mit „Placas“ versorgt werden. Nachdem im Studium nur wenige, ausgewählte prothetische Arbeiten hergestellt wurden, war ich sehr dankbar darum, dass ich bei Unsicherheiten auf die Rücksprache mit den Zahntechnikern zurückgreifen konnte. Zufrieden und stolz, dass ich ich das Consultorio ohne erfahrene zahnärztliche Hilfe den ersten Tag in Betrieb halten konnte, beendete ich meinen ersten Arbeitstag. Dennoch blieben ein paar Bauchschmerzen, dass ich nicht das gesamte Behandlungsspektrum abdecken konnte - so fehlte mir doch die Erfahrung im Extrahieren und bei komplexen prothetischen Fragestellungen.
Doch auch der nächste Arbeitstag brachte wieder einige Überraschungen mit sich, diesmal jedoch sehr positive. Als ich am Morgen ins Consultorio kam, wurde ich von dem bolivianischen Zahnarzt Diego Patzi begrüßt. Nachdem Ekkehard Schlichtenhorst, der die Projekte des FCSM koordiniert, von der Situation in Huancarani erfahren hatte, setze er alle Hebel in Bewegung, damit ich im Consultorio eine erfahrene zahnärztliche Unterstützung zur Seite haben würde. Aus Deutschland konnte jedoch so kurzfristig und in der Zeit vor Weihnachten leider kein Zahnarzt akquiriert werden.
Der bolivianische Zahnarzt Diego ist schon lange mit dem Projekt des FCSM vertraut, so leitet sein Bruder Ronald Patzi die geschäftlichen Angelegenheiten vor Ort und ist Verwalter der Räumlichkeiten, die Teil einer Schweizer Organisation sind. Zu meiner großen Freude erzählte mir Diego, dass er in seiner Praxis auf Prothetik und Chirurgie spezialisiert sei und somit konnten wir nach dem vorherigen Trubel in einen geregelten Praxisalltag mit vollem Behandlungsspektrum starten. Auch freute ich mich sehr darüber, dass ich durch das Wissen von Diego Erfahrungen sammeln, neue Techniken anwenden und Fortschritte machen würde.
Mit vereinten Kräften konnten Diego und ich dem Patientenansturm einigermaßen gerecht werden. Die ersten Patienten waren zum Teil schon ab 1 Uhr nachts vor Ort, um als erste behandelt zu werden.
Prothetisch konnten wir innerhalb meiner ersten beiden Wochen fast alle der angefangenen Prothesen eingliedern, da die Patienten zuverlässigt erschienen und die Zahntechniker-Meister flinke und saubere Arbeiten lieferten. Die meisten der Patienten waren mit ihren Placas sehr zufrieden und erfreuten sich über ihren neuen Gebisszustand und das neue Lächeln. Bei einigen wenigen war es jedoch schwierig, die Prothesen zufriedenstellend einzugliedern. Vor allem eine Patientin blieb mir im Gedächtnis: Ihre Prothese war nach allen Regeln der Zahntechnik hergestellt worden, die Kieferrelation von einem erfahrenen Kollegen bestimmt, die Basen richtig ausgeformt und die Okklusion korrekt eingeschliffen. Nachdem die Prothese vor dem Wochenende eingegliedert wurde, kam die Patientin am Montag wieder und sagte, ihre Placa funktioniere nicht und würde beim Essen und Sprechen herausfallen. Am Freitag war die Eingliederung von mir durchgeführt und als passend eingestuft worden und dementsprechend war ich von ihrer Aussage verunsichert. Ich machte mich also an die Kontrolle und fand sofort das Problem. Bedingt durch die lange Zahnlosigkeit, nahm die Patientin ihre Schlussbissstellung in einer protrudierten Position ein, die allerdings nicht ihrer zentralen Kondylen-Position entsprach. Als zusätzlich problematisch erwies sich, dass die Patienten fast nur Quechua sprach. In Anbetracht der korrekt prothetisch versorgten Situation und einer articulo-muskulären Fehlinnervation blieb mir nur übrig, der Patientin mit dem Spiegel Übungen aufzuzeigen, wie sie mit den Prothesen in ihre korrekte Kondylenposition zurück finden konnte. Dies war natürlich für die Patienten nicht sehr zufriedenstellend, da keine schnelle Lösung, sondern ihre Mithilfe und Übung gefragt war. Nachdem sich nach einer Stunde Übung und Erklärung ihre Koordination merklich verbessert hatte, schickte ich sie mit der Bitte nach Hause, wiederzukommen, sofern die Probleme weiter bestünden. Während meines Famulaturzeitraumes habe ich sie nicht wieder gesehen und hoffe sehr, dass sie sich an ihre neue Prothese gewöhnt hat und damit zurecht kommt.
Während meine ersten beiden Wochen in Huancarani vor allem prothetisch geprägt waren, änderte sich mit Abreise der Zahntechniker-Meister und durch den Beginn der Schulferien das Patientenbild. Mehr und mehr Familien mit Kindern wurden vorstellig. Mit großen Sorgen musste ich auch in Huancarani feststellen, dass die Mundhygiene der Kinder von den Eltern stark vernachlässigt und sich ein dementsprechend desolater Zustand der Milch- und bleibenden Zähne darstellte.
So war es leider keine Seltenheit, dass im siebten oder achten Lebensjahr die bleibenden Molaren bereits komplett zerstört waren. Die Milchzähne waren meist bis zur Wurzel kariös zerstört, häufig mit Fisteln. Die Eltern waren leider stärker über das Aussehen der Milchzähne als den Schutz der bleibenden Zähne besorgt. Als einzigen Ausweg sah ich die konsequente Mundhygiene-Instruktion der Kinder mit gemeinsamen Putzübungen und auch den Appell an die Eltern, nachzuputzen bis die Kinder 10 Jahre alt sind.
Wo immer es möglich war, versiegelte ich die 6-Jahres-Molaren der Kinder um die gesunde Zahnhartsubstanz langfristig zu schützen. Häufig war ich über die Tapferkeit, Geduld und das Vertrauen der Kinder begeistert, die bei der Behandlung auf beeindruckende Weise kooperierten. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich die Situation der Kinder in den nächsten Jahren schnell verbessert um ein Lückengebiss im Teenager-Alter vermeiden zu können. Hierzu ist natürlich die konsequente Hygiene, Prophylaxe und Versieglung der bleibenden Zähne notwendig als auch die Aufklärung der Eltern über die fatalen Folgen der extrem zuckerreichen Ernährung.
In den vier gemeinsamen Wochen machte ich auch große Fortschritte im Extrahieren. So stand mir Diego beratend zur Seite, wenn es darum ging Wurzelreste, Milchzähne oder auch Weisheitszähne zu extrahieren, und die anfängliche Unsicherheit wich und ich wurde selbstständiger.
Die Wochen vergingen wie im Flug und die Arbeitstage verliefen immer reibungsloser. Nicht selten behandelte ich 15 Patienten am Tag und hatte eine bunte Mischung aus Füllungen, prothetischen Versorgungen, Wurzelkanalbehandlungen, Extraktionen und Kinderbehandlungen auf dem Tagesplan, die den Arbeitstag sehr abwechslungsreich und kurzweilig machten.
Doch war die Zeit in Bolivien nicht nur von Arbeit geprägt. An den Wochenenden erkundete ich den wunderschönen Andenstaat. So besuchte ich zusammen mit den anderen Voluntarios des Projekts die Silberminen (der früher einmal reichsten Stadt der Welt) Potosí, wir ritten durch die Canyons von Tupiza, besuchten Cochabamba und bestiegen den höchsten Berg der Region, den Pico Tunari mit 5.030 müNN. Nachdem die anderen die Heimreise angetreten hatten, bereiste ich Bolivien auf eigene Faust und machte spannende Erfahrungen, als ich den Toro Toro Nationalpark mit einer rein bolivianischen Reisegruppe besuchte.
Natürlich durfte der Besuch der legendären Salzwüste in Uyuni nicht fehlen, der das letzte Wochenende im Projekt füllte. Als mein persönliches Highlight in Bolivien werde ich sicherlich die erfolgreiche Besteigung des 6.088 m hohen Huayna Potosí in der Nähe von La Paz niemals vergessen. Ich sehe das Erreichen des Gipfels in eisiger Höhe und dünner Luft als perfekten Abschluss des zahnärztlichen Hilfseinsatzes im Projekt des FCSM, als auch des Jahres 2022 und bin sehr dankbar für meine Zeit im Bolivien.
Ich freue mich sehr darüber, dass mein zahnärztlichen Hilfseinsatz beim FCSM in Huancarani trotz der anfänglichen Turbulenzen so lehrreich und spannend vonstatten gegangen ist! Die Tätigkeit im Consultorio in Huancarani bietet einem die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, gibt einem nach dem Staatsexamen eine gewisse Sicherheit, in den Praxisalltag in Deutschland zu starten und ermöglicht einem zudem, etwas Gutes zu tun.
Die bolivianischen Patienten sind so dankbar für die zahnärztliche Versorgung in Huancarani und geben ihre Wertschätzung darüber zum Ausdruck, dass sie stundenlang bei Wind und Wetter auf ihre Behandlung warten und mir, der deutschen „Doctorita“ und Henry mit großem Respekt, Vertrauen und Dank gegenüber treten. Dies macht das Projekt und die Arbeit vor Ort einzigartig!
Ich möchte mich herzlich beim FCSM und Ekkehard Schlichtenhorst bedanken, der ein wunderbares Projekt in Bolivien aufgebaut hat, welches es Zahnärzten aus Deutschland leicht macht, in einem der ärmsten Länder Südamerikas zu praktizieren. Die Bedingungen in Huancarani sind mit denen in Deutschland zu vergleichen, und durch jahrelange gute Arbeit kommen die Patienten mit großem Vertrauen und von weit her nach Huancarani. Die Unterbringung in eigenen Apartments ist sehr gemütlich, komfortabel und sicher, und der herzliche Anschluss an die Familie von Doña Adela, die einen liebevoll an ihrem Tisch aufnimmt und wunderbar bekocht, macht die Zeit sehr angenehm.
Ihre Söhne Will und Henry unterstützen die Voluntarios vor Ort wo sie können, räumen Hindernisse aus dem Weg und geben Tipps.
Gerne möchte ich mich auch beim ZAD bedanken, der es dank der finanziellen Unterstützung möglich macht, dass junge Zahnärzte und Studierende ihren Horizont und ihre Fähigkeiten erweitern und Erfahrungen im Ausland sammeln können!
Danke Bolivien für die tolle Zeit! Vielleicht komme ich ja wieder, denn man sagt doch „Aller guten Dinge sind drei“?!
Julia Stahl