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Martin, Raphael

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Huancarani, 09.03. - 27.03. (09.04.) 2020
Die Zusage für meine Auslandsfamulatur in Bolivien ergab sich sehr spontan, als sich Dr. Ekkehard Schlichtenhorst, Vorsitzender des „Förderkreis Clinica Santa Maria e.V.“ im Januar bezüglich eines Auslandseinsatzes bei mir erkundigte. Obwohl zunächst der Sommer 2020 angedacht war, durfte ich schon in den Wintersemesterferien mein Fernweh stillen und bei einem sozialen Hilfsprojekt mitwirken.
Meine Reise begann am Donnerstag dem 27.02 in Frankfurt, als ich etwas verspätet mit „Latam Airlines“ nach Madrid aufbrach, wo ich für zwei Nächte Freunde von mir besuchte. Ende Februar war die Coronasituation in Europa noch nicht allzu dramatisch und man konnte das spanische Flair im Park von Madrid oder in einer der vielen Chocolaterias genießen. Zu diesem Zeitpunkt trugen etwa 30 Prozent der Menschen Mund- und Nasenschützer am Flughafen.
Als ich am Samstag, dem 29.02, kurz vor Mitternacht ins Flugzeug nach Santa Cruz stieg, musste ich relativ bald feststellen, dass es sich um einen Airbus 330-200 mit Minimalausstattung handelt, etwa vergleichbar mit einem Ryanair-Kurzstreckenflug. Wer auf Komfort, Touchscreen und gutes Essen verzichten kann, dem kann ich die preisgünstigen Transatlantikflüge von AirEuropa sehr empfehlen. In Santa Cruz angekommen, reihte ich mich in der langen Schlange vor dem Immigrationsbüro ein und ließ mir den Stempel für mein 30 Tage-Visum in den Pass drücken. Der Flughafen in Santa Cruz war klein und süß, die Stoffsessel am Gate waren zerrissen und die Sicherheitskontrolle erweckte einen eher provisorischen Eindruck. Am Gate lernte ich Linda und Kevin kennen, die ebenso in Projekten in Cochabamba mitwirkten. Schließlich verließen wir Santa Cruz mit etwa einer bolivianischen Stunde, also 180 Minuten, Verspätung und landeten gegen Mittag in Cochabamba. Dort angekommen wurde ich von Janine und Joaquin von der Sprachschule abgeholt und zu meiner Gastfamilie gebracht. Cochabamba liegt auf 2600m am Fuße einer Andenkordillere und ist mit 650 Tausend Einwohnern die viertgrößte Stadt Boliviens. Im Spätjahr 2019 wurde Bolivien von starken politischen Unruhen geplagt und ich war der erste Schüler in der Sprachschule seit Monaten.
Der Einzelunterricht in der ersten Woche war enorm wichtig und ich konnte mein Spanisch (welches bislang aus 10h A1 Kurs an der Uni bestand) optimal auf die Behandlung vorbereiten. Die Kommunikation mit der Gastfamilie war anfangs schwierig, aber zum Ende der Woche konnten wir uns über die wichtigsten Themen austauschen. Am Freitag verließ ich die Gastfamilie und zog nach Huancarani, um das Projekt und meine Convoluntarios kennenzulernen. Noch am selben Abend fuhren wir zusammen per Nachtbus nach Sucre, der angeblich schönsten und besterhaltenen Stadt Boliviens. Dort besuchten wir die Voluntarios des „Bolivia movil“ (ebenfalls unter der Leitung von Dr. Ekkehard Schlichtenhorst), die derzeit in Sucre in einer Schule aktiv waren.
Zurück in Huancarani begannen wir am Montagnachmittag mit der Behandlung.    Huancarani liegt etwa eine Stunde Taxifahrt von Cochabamba entfernt in einer eher ruralen Region.
Die Umgebung ist gezeichnet von grünen Hügeln, Weinreben, Maisfeldern und unasphaltierten Straßen. Durch die mangelnde Infrastruktur, aber auch durch die Sprache, die sich in den ländlichen Regionen über die Jahrhunderte entwickelt hat (viele der Indigenos sprechen nur Quechua), haben einige Bolivianos keinen Zugang zu urbanen Regionen und Bildung. Dies spiegelt sich auch im desolaten Mundhygienezustand vieler Bolivianos wieder, die zum Teil noch nicht einmal wissen, wie eine Zahnbürste richtig anzuwenden ist. Nach einer Woche im Consultorio blickte ich auf eine lehrreiche Woche voller Extraktionen, zahlreichen Füllungen und ein paar Abformungen für Interimsprothesen zurück. Pro Tag behandelte ich zusammen mit dem leitenden Zahnarzt Herbert Adler etwa 15-20 Patienten. In Huancarani ist immer ein Student zusammen mit einem erfahrenen Zahnarzt tätig, um eine optimale Behandlungsqualität, aber auch einen guten Lerneffekt zu gewährleisten.
Je nach Möglichkeit wird eine 2:1 Arbeitsteilung angestrebt. Das Consultorio ist mit westeuropäischen Standards ausgestattet und verfügt neben der Behandlungseinheit über einen Prophylaxeraum und ein Laboratorio. Mit der Unterstützung unserer Dentalhygienikerin Alex wurden die Patienten vor der Behandlung mundhygienefähig gemacht und Werner Badenheuer fertigte die beliebten „Placas“ (Interimsprothesen) im Labor an.
Mittlerweile hatte sich die Coronasituation weltweit zugespitzt und die bolivianische Regierung kündigte drastische Restriktionen zum kommenden Montag an. Ich meinerseits gönnte mir über das Wochenende einen Ausflug in den Toro Toro Nationalpark mit Linda und Kevin, während sich Herbert und Alex um einen Rückflug bemühten, bevor am Montag die Grenzen für unbestimmte Zeit geschlossen werden. Obwohl es bis dato nur zwei offiziell gemeldete Fälle in Bolivien gab, musste die Regierung strikt durchgreifen, um das Gesundheitssystem vor einem Zusammenbuch zu bewahren.
Als ich Sonntag zurück nach Cochabamba kam, waren Alex und Herbert bereits auf dem Weg nach Hause und so waren Werner, unser Zahntechniker, und ich die einzig Verbliebenen. Auch das Bolivia movil in Sucre löste sich auf, da die Gegenmaßnahmen der Regierung ein Weiterarbeiten in den Schulen unmöglich machten. Da ich ohne abgeschlossenes Studium nicht befugt bin, eigenständig zu arbeiten, versuchte ich vergebens, beide Projekte zusammenzuführen und nahm Kontakt zu Anette Schoof-Hosemann von „Dentists für Bolivien“ und zu Herrn Dr. Reif aus Peru auf, um noch irgendwie weiterarbeiten zu können. Die Grenzen nach Peru wurden dicht gemacht, der öffentliche Verkehr komplett eingestellt und jegliche Hoffnung ging damit in die Binsen.
In unserem selbstgewählten Exil wurden wir kulinarisch von Donna Adela, die im selben Gebäude wohnt und die Voluntarios ganzjährig versorgt, verwöhnt und trösteten uns mit Vino Tinto, während wir die die übrigen Prothesen anfertigten und einsetzten.
Ich lieh mir von unseren Nachbarn eine Gitarre, reparierte das Mountainbike von Donna Adelas Sohn Wilfredo und genoss zusammen mit Werner das durchgehend herrliche Wetter in Huancarani. Ich hätte mir die Quarantäne nicht besser ausmalen können und da ich im kommenden Semester ein Freisemester geplant hatte, war ich nicht darauf angewiesen, schnellstmöglich nach Hause zu fliegen. Ganz im Gegenteil, ich hielt die Situation sogar für sicherer als in Deutschland. Zum einen aufgrund der noch niedrigen Infektionszahlen und der enorm niedrigen Bevölkerungsdichte, die mit 10 Einwohnern pro km² im Vergleich zu 1600 Einwohnern/ km² in Deutschland äußerst marginal erscheint. Außerdem verfügen die Bolivianos über ein gut ausgeprägtes Immunsystem und durch die hohe Lage werden Viren tendenziell schneller durch die UV Strahlung eliminiert.
Die Devise lautete also, abwarten bis die Grenzen nach Peru geöffnet werden und dann schnurstracks nach Norden. Die Regierung hatte mittlerweile 1700 Leute, die sich nicht an die aktuellen Quarantänemaßnahmen gehalten haben, verhaftet und eingebuchtet. Der Präsidentin blieb demnach wohl nichts anderes übrig als den Notstand auszurufen. Für die Bolivianer bedeutete das: absolute Ausganssperre, Grenzen dicht und kein Straßenverkehr. Je nach Ausweisnummer, durften jeweils 1/5 der Einwohner an einem der Werktage das Haus verlassen, um Erledigungen zu machen. Bei Missachtung wurden Strafen in Höhe von 2000 Bolivianos (270 Euro) verhängt.
Noch in der gleichen Woche informierte uns die deutsche Botschaft über mögliche Rückholaktionen der Bundesregierung, um gestrandete Urlauber, Voluntarios, Studenten o.Ä. nach Deutschland zu bringen und wir entschlossen uns, die Heimreise anzutreten.
 
Am Freitag, dem 27.03. fuhren wir zusammen mit Ronald, dem Leiter der Organisation in Huancarani, und einem befreundeten Polizisten an den Flughafen. Wir passierten zahlreiche Militärkontrollen und erreichten gegen 6:30 den Flughafen in Cochabamba. Alle Hauptstraßen wurden vom Militär besetzt und die kleinen Nebenstraßen wurden mit Sandhügeln blockiert. Gegen 9-10 Uhr trudelten Scharen von Backpackern, Ausreißern und Hippies ein. Der Zubringerflug verlief problemlos und wir landeten gegen 13:30 Uhr in Santa Cruz. Dort angekommen versammelte sich der Rest der rückreisewilligen Deutschen vor den Check-In-Schaltern. Zum Glück wurden wir in Cochabamba schon durchgecheckt, somit war unser Platz im Flieger gesichert. 450 Leute fanden in der Queen, der Boeing 747-400, Platz. 20 Leute mussten wohl dort bleiben und mit der nächsten Maschine in der darauffolgenden Woche die Heimreise antreten. Das Flugzeug war von innen bei weitem nicht so schön wie von außen, sehr veraltet und tendenziell eher eng, aber immerhin gab es Abendessen und Frühstück. Was der Spaß letztlich kosten wird, wissen wir bis heute noch nicht.
 Abschließend möchte ich mich beim FCSM e.V., meinen Convoluntarios und allen Menschen, die mich auf meinem Weg begleitet und unterstützt haben, recht herzlich bedanken! Ebenso möchte ich mich bei der Bundesregierung für ihr Entgegenkommen bedanken J Ich blicke auf eine lehrreiche und bereichernde Zeit zurück und möchte eine weitere Auslandsfamulatur
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