Wiesner, Lena
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Huancarani, 19.09. – 31.10.2022
Ich gehöre zu den wohl eher spontan entschlossenen Famulanten. Unerwartet bot sich ein Zeitfenster, und da ich schon während meines Studiums an einem Projekt teilnehmen wollte, aber Corona mir dazwischenkam, dachte ich: dann muss es jetzt klappen! So schrieb ich Ekkehard Mitte Juni eine Mail, ob im Herbst nicht noch ein Platz für eine frisch approbierte Zahnärztin frei wäre. Ende Juli konnte er mir sicher bestätigen, dass ich kommen kann und so buchte ich Anfang August meinen Flug für den 16. September. Anschließend ging es schon so langsam ans Packen. Material bekam ich vom Verein selbst zugeschickt. Der Inhalt richtet sich danach, was den Voluntarios vor Ort so langsam ausgeht und was sie sich an Material wünschen. Herzlichen Dank auch an den Dentalshop Gerl, der mir auch ein Kontingent zur Verfügung stellte, wodurch ich weitere Verbrauchsmaterialien mitbringen konnte.
Wenige Wochen später ging es endlich los von Frankfurt über Madrid nach Santa Cruz und schließlich nach Cochabamba. Dort wurde ich von Will und Jana, die aus der Schweiz zu Besuch war, abgeholt. Auf der Weiterfahrt nach Huancarani erklärten die beiden mir gleich mal alles, was es zu Essen, Trinken, Öffis und Reisemöglichkeiten zu wissen gab. Zu Hause angekommen lernte ich auch schon Doña Adela, die Mutter von Will und Henry, und Hubert, den erfahrenen Zahnarzt vor Ort, kennen. Gleichzeitig mit mir war noch eine weitere Jungzahnärztin, Camilla, da, die an diesem Wochenende aber zu einem Ausflug aufgebrochen war. Am gleichen Nachmittag noch luden Will und Jana mich ein, sie auf eine Geburtstagsfeier und am nächsten Tag mit der Familie zum Barbecue im nahegelegenen Eukalyptuswald zu begleiten. Da höre ich mich natürlich nicht nein sagen ;)
Am Montagmittag ging es los mit der Behandlung. Das Consultorio ist hervorragend ausgestattet! Es gibt zwei Behandlungszimmer mit elektrischen Einheiten und einen dritten Raum mit manuell einstellbarem Stuhl, der als Prophylaxezimmer gedacht ist. Nachdem der zweite Stuhl zunächst nicht ganz funktionsfähig war, behandelten wir die erste Woche zusammen an der anderen Einheit und wechselten uns dabei stetig ab. Hubert gab uns hervorragende Tipps und auch der Austausch zunächst mit Camilla und später mit Lea über die Lehrmeinungen der verschiedenen Unis eröffnete mir immer wieder neue Vorgehensweisen. So wurde vor jeder Behandlung immer die bestmögliche Vorgehensweise für den jeweiligen Patienten und die Situation zusammen diskutiert.
Vom Behandlungsspektrum bietet die Einrichtung viele Möglichkeiten: Füllungen, Extraktionen, Endos an einwurzeligen Zähnen (unter Kofferdam mit elektrischer Aufbereitung und integrierter Längenmessung), Röntgen (muss manuell entwickelt werden) und, sofern Zahntechniker vor Ort sind, auch Interimsprothesen (sogenannte „Placas“).
In meiner zweiten Woche kam Erwin an, der Hubert als erfahrenen ZA später ablösen sollte. Da mittlerweile der zweite Stuhl wieder funktionstüchtig war, ergab sich eine neue Arbeitseinteilung, wobei Camilla und ich zusammen und Erwin entweder allein oder mit Henry als Assistenz arbeitete. So konnten wir sehr viel in unserem eigenen Tempo behandeln und bei Fragen jederzeit einen Rat einholen.
Wenig später trafen unsere beiden Zahntechnikermeister Tristan und Ann-Kathrin ein. Von nun an ging es rund in der Praxis. Es hatte sich im Dorf selbstverständlich schon herumgesprochen, dass es ab jetzt wieder „Placas“ gibt.
So ging es zunächst vor allem darum, Befunde zu erheben und das Gebiss durch notwendige Füllungen oder Extraktionen auf einen möglichst langlebigen Zahnersatz vorzubereiten. In der nächsten Sitzung wurden Alignatabdrücke genommen, später evtl. nochmal Silikonabdrücke mit individuellen Löffeln, eine Bissnahme und schließlich die fertige Arbeit eingesetzt.
Ganz vergleichbar mit deutschen Verhältnissen sind die Behandlungsbedingungen natürlich nicht. Immer wieder muss man Kompromisse eingehen und flexibel bleiben, was aber unter anderem auch den Patienten und ihren lückenhaften Vorkenntnissen über Zahngesundheit geschuldet ist. Viele wünschen sich beispielsweise eine Extraktion, um möglichst schnell die Schmerzen zu beseitigen, anstatt eine Wurzelkanalbehandlung vornehmen zu lassen, um einen Zahn zu retten.
Der traurigste Moment ist immer der, wenn ein Kind unter 10 Jahren die Praxis betritt und man beim ersten Blick in den Mund sieht, dass alle 6er bereits tiefe kariöse Läsionen aufweisen und eigentlich keine andere Wahl bleibt als die Extraktion…
Hier war es immer unser besonderes Anliegen zum einem dem Kind zu erklären, wie es richtig Zähne putzen kann und zum anderen den Eltern Nachhilfe in Sachen Ernährung zu geben und über die verheerenden Auswirkungen des täglichen Konsums von Cola und weiteren Süßigkeiten aufzuklären. Hier sind die Patienten sehr dankbar und hören interessiert zu.
Äußerst wichtig in diesem Zusammenhang ist es, zumindest ein bisschen spanisch sprechen zu können. Die meisten Patienten können nur Spanisch oder Quechua – seine Englischkenntnisse kann man hier nur mit Will und ein bisschen mit Henry zur Anwendung bringen, aber nicht bei einem Patienten.
Sehr überrascht war ich in meiner ersten Woche, dass es im Gegensatz zu den vielfach zerstörten Gebissen auch Patienten gibt, die das Consultorio betreten, um nur um eine Inspektion und eine Limpieza zu bitten.
Allgemein sind die Patienten hier äußerst geduldig. Viele warten bereits 2h vor Arbeitsbeginn vor den Toren, bis sie später im Laufe des Tages zur Behandlung aufgerufen werden.
In der Mittagspause und nach Feierabend wurden wir immer von Doña Adela bekocht – ein Traum! Ich glaube, ich habe mich in meinen letzten 6 Jahren während des Studiums nie so ausgewogen, gesund und lecker ernährt wie hier. Für das Frühstück waren wir selbst verantwortlich, aber bei der unglaublichen Auswahl an Obst und Gemüse auf dem Markt war auch das kein Problem.
Am Wochenende unternahmen die Voluntarios immer Ausflüge zu verschiedenen Orten. Mein persönliches Highlight: der Salar de Uyuni, die größte und höchstgelegene Salzwüste der Welt im Südwesten Boliviens, einfach atemberaubend! Weitere Unternehmungen führten uns zum Titicacasee, nach La Paz, die Death Road mit Mountainbikes hinunter (keine Angst, das kann man sich auch ohne große Erfahrung im Biken zutrauen) mit einer Übernachtung im Regenwald im kleinen Örtchen Coroico. Auch der Nationalpark Toro-Toro mit seinen Dinosaurierfußspuren und der Gipfel des Tunari (5030m) sind einen Ausflug wert. Ein weiterer Tipp meinerseits: mal ein Wochenende in Cochabamba verbringen, abends essen und evtl. mal feiern gehen und unbedingt zur Cristo-Statue hochlaufen (oder mit der Seilbahn fahren) – hier hat man nämlich eine unglaubliche Aussicht über die Stadt.
Ich kann nur jedem die Teilnahme an diesem Projekt des FCSM ans Herz legen. Ich habe hier fachlich in kürzester Zeit so viel Neues gesehen und gelernt und so viele herzensgute Menschen getroffen, dass ich diese Erfahrung auf keinen Fall missen möchte. Hier hat man wirklich das Gefühl, den Menschen vor Ort etwas Gutes zu tun und helfen zu können. Vielen Dank an Hubert und Erwin für die zahnärztliche Betreuung, an Henry für seine tolle Hilfe im Consultorio und seine unermüdlichen Bemühungen unser Spanisch aufzupolieren, an Doña Adela, für die leckere Verpflegung und an Camilla, Lea, Ann-Kathrin, Tristan und Will für die vielen Ausflüge und eine unvergessliche gemeinsame Zeit. Und last but not least: vielen Dank an Ekkehard für die super Organisation!
Lena Wiesner