Wai, Sandra
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Huancarani 6.6.-24.6.2022
Der erste Versuch, bei FCSM ehrenamtlich zu arbeiten, war vor zwei Jahren aufgrund der Corona-Pandemie misslungen. Infektionswellen, Beschränkungen, Lockdowns, Impfungen und der Arbeitsalltag haben meine Gedanken an die ehrenamtliche Auslandstätigkeit weitgehend verdrängt. Eines Tages saß plötzlich ein bolivianischer Patient auf meinem Behandlungsstuhl in Berlin und hat mich aus dem Alltagstrott geholt. Ich habe mich entschlossen den Schritt nochmals zu wagen und habe Anfang des Jahres Ekkehard gefragt, ob es im Juni noch einen Platz für das Huancarani-Projekt gibt. Alles Weitere ging dann sehr schnell, bis Mitte Februar habe ich die Zusage von FCSM erhalten, den Urlaub genehmigt bekommen und die 26-stündige Flugreise nach Cochabamba gebucht.
Die Vorfreude war unglaublich riesig und ich konnte bis zu dem Moment, in dem ich am Flughafen in Cochabamba von Alina, Henry und Mehmet herzlichst empfangen wurde, nicht fassen, dass es dieses Mal wirklich alles reibungslos funktioniert hat.
Leider war es ein fliegender Wechsel mit Mehmet, der bereits drei Wochen bei FSCM als Voluntario gearbeitet hat. Er ist gleich am Flughafen geblieben und Henry, Alina und ich sind nach Huancarani gefahren. Dort angekommen, habe ich gleich die liebenswerte Doña Adela im Garten kennengelernt, die uns wochenlang sehr gut bekocht hat.
Als Voluntarios sind wir in einer geräumigen Wohnung mit drei großen Zimmern, einer Küche und einem Badezimmer untergebracht. Ich war sehr erstaunt, dass die Praxis super gut ausgestattet ist. Es gibt zwei Behandlungsräume, ein Prophylaxezimmer und einen Röntgenraum mit einem analogen Röntgengerät.
Ich war so froh, dass wir den Henry hatten, der für uns das Zimmer vor- und nachbereitet, den Steri, die Patientenaufnahme gemacht hat und die Warenwirtschaft sowie die ganze Praxisorganisation übernommen hat. Alina und ich haben abwechselnd behandelt und uns gegenseitig assistiert. In der ersten Woche hatten Alina und ich sehr viel zu tun (15-19 Patienten), mussten auch öfters Patienten wegschicken. Wir haben hauptsächlich Tapas=Füllungen gelegt, Wurzelkanalbehandlungen und einfache Extraktionen durchgeführt. Die meisten Kinder haben ein stark zerstörtes Milch- bzw. Wechselgebiss, viele von ihnen waren jedoch sehr tapfer und compliant. Alina und ich haben besonders viel Zeit und Geduld in die Kinderbehandlungen investiert und die Eltern über das Ernährungsverhalten und die essentielle Mundhygiene aufgeklärt. In Bolivien gibt es oft gesüßten Tee oder Limonade und die beliebten, herzhaft gefüllten Salteñas=bolivianische Empanadas, deren Teig teilweise sehr süß ist, gibt es an jeder Straßenecke.
An meinem ersten Arbeitstag hat eine junge Patientin gleich zu Beginn gesagt, dass sie sich den schmerzhaften 45 extrahieren lassen möchte. 46 war ein Wurzelrest und 45 war zwar kariös, aber man könnte den Zahn mit einer WKB erhalten. Sie wurde aufgeklärt über WKB vs. Ex, nach langem Überzeugungsversuch hatte sie sich dennoch für die Ex entschieden. Im Laufe der drei Wochen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich sehr viele Bolivianer für die schnellere, unkompliziertere Therapie entscheiden. Für die meisten ist es gar nicht so schlimm, wenn Zähne entfernt werden, vor allem weil Zähne bereits fehlen. Außerdem ist Alina und mir aufgefallen, dass sehr viele Patienten ein starkes Abrasionsgebiss haben. Alina hatte eine Patientin, die sich ihre oberen mittleren Schneidezähne so heftig abgeknirscht hat, dass diese eigentlich nur noch Wurzelreste waren.
Da wir in unserem Consultorio nur bis zu den 5ern wurzelkanalbehandeln und wir keine Möglichkeiten haben, ein OPG für die Lagebestimmung der Weisheitszähne zu erstellen, mussten wir einige Patienten in die Klinik oder in andere Consultorios überweisen. Patienten, die eine Placa=Prothese benötigen, mussten wir damit vertrösten, dass sie sich im August wieder vorstellen sollten, weil wir bis dahin keinen Zahntechniker vor Ort haben.
Nach der anstrengenden, aber erfüllten Woche haben wir uns einen Wochenendtrip zum Titicacasee verdient. Mit der bolivianischen Airline BOA kommt man sehr günstig nach La Paz und von dort aus haben wir einen Bus nach Copacabana genommen. Die Bootstour zur Isla der Sol, die Wanderung auf den Hausberg Cerro Calvario (am besten bis zum traumhaften Sonnenuntergang bleiben) und das Schlendern durch die Altstadt gehören auf die To-Do-List. Alina und ich konnten gar nicht mehr aufhören, Alpakasocken in verschiedensten Farben und Beutelchen mit typischem bolivianischem Muster zu kaufen.
In der zweiten und dritten Woche hatten wir weniger Patienten als in der ersten Woche (8-13 Patienten). Eventuell lag es daran, dass es in den zwei Wochen zwei Feiertage gab – Corpus Christi=Fronleichnam und Año nuevo Aymara=Sonnenwendfest.
Doña Adela war noch nie in ihrem Leben auf dem Sonnenwendfest und sie wollte es endlich mal erleben. Für Alina und mich war es auch die Premiere, wir dachten, wir gehen einfach mit und wandern eine Runde auf dem Berg. Am 21.6. sind wir mit Henry und Doña Adela um 4 Uhr morgens zum Sonnenwendfest den Berg hochgefahren. Wir saßen mit anderen Leuten am Lagerfeuer und warteten auf den Sonnenaufgang. Das prächtige Farbspiel am Himmel von schwarz über lila, rot, orange, gelb, rosa nach blau sah bezaubernd aus. In der Morgendämmerung haben wir vier süße Lamas auf der Wiese gesehen. Als die ersten Sonnenstrahlen heraus kamen, hoben alle Menschen die Arme und streckten die Hände hoch. Menschen mit traditionellem Umhang führten einen Tanz auf und spielten Musik sowie die Flagge der Aymara mit 49 Quadraten in den Regenbogenfarben wurde gehisst.
Wir sind dann um den Felsen herum gelaufen und haben gesehen, wie die Menschen die 4 Lamas als Opfergaben vorbereitet haben. Ich stand fassungslos und schockiert da und konnte nicht glauben, was die Bolivianer vor mir taten. Alle kauten Kokablätter und tranken Chicha= traditionelles Maisgetränk), waren glücklich und hatten Spaß. Die Stimmung auf dem Berg war sehr gut und Alina und ich haben sogar mit den Einheimischen getanzt. Trotzdem werde ich in Zukunft kein zweites bolivianisches Sonnenwendfest mehr feiern.
In den drei Wochen hatte ich nur einen einzigen Patienten, bei dem kein einziger Zahn behandlungsbedürftig war. Er hatte sich aber auch nur zur KFO Beratung vorgestellt, weil er angeblich von jemandem die Empfehlung bekommen hat. Nach 2 Stunden Wartezeit musste ich ihm leider mitteilen, dass unser Consultorio gar keine KFO Behandlung anbietet. Außer ihm konnten Alina und ich jedem auf irgendeine Art und Weise helfen. Ich war zufrieden mit mir selbst und bin sehr froh, dass ich das Hilfsprojekt in Bolivien nochmals in Angriff genommen habe. Definitiv werde ich mich in Zukunft weiterhin ehrenamtlich engagieren und kann es allen dazu raten.
Ich bin sehr glücklich, dass ich bei FCSM so viele liebenswerte Menschen kennengelernt habe: Alina, Henry, Doña Adela, Wil, Ronald, Diego, Don Philippe.
Ich hätte mir keine bessere „Mitvoluntaria“ vorstellen können als Alina. Mit ihr habe ich drei wundervolle, unvergessliche, abenteuerliche Wochen im Consultorio, in Cochabamba, La Paz, am Titicacasee und im Salar de Uyuni verbracht.
Eine anschließende Reise nach Peru (Machu Picchu, Rainbow Mountains, Huacachina, Lima) kann ich wärmstens empfehlen.
Dr. Sandra Wai