Adler, Herbert 2
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Huancarani, 26. März bis 13. April 201
Dies war mein zweiter Aufenthalt in Huancarani nach 2016. In dieser Zeit haben sich einige Veränderungen im Cosultorio ergeben. Die Personalien und die Leistungen werden jetzt in einen Laptop eingegeben, so dass die Patientendaten und frühere Leistungen abgeglichen werden können. Dabei ist natürlich Voraussetzung, dass die Namen richtig erfasst werden. Oft haben die erwachsenen Patienten einen Ausweis dabei, das erleichtert die Patientenerfassung wesentlich. Zum anderen gibt es jetzt einen robusten und unkomplizierten Heißluftsteri und eine besondere Neuerung: Das Prophylaxe-Zimmer direkt neben dem Behandlungszimmer, „la Sala de Limpieza“, in dem jetzt Zahnreinigungen und Prophylaxe-Maßnahmen durchgeführt werden können.
Diese Maßnahmen sind nach wie vor immens wichtig, denn der Zuckerkonsum ist erschreckend hoch. Vor jeder Schule gibt es kleinere Läden und Verkaufsstände, die ein großes Angebot an Süßigkeiten führen. In meinen Augen scheint Coca-Cola das Nationalgetränk zu sein, es ist das einzige Getränk, für das überall Werbung gemacht wird, und das gern von Jung und Alt getrunken wird, oft aus 3-Liter-Flaschen. An Straßenkreuzungen in Quillacollo und Cochabamba werden den bei roter Ampel Wartenden „gelatinas“ in Einmal-Bechern oder Schlauchbeuteln angeboten. Entsprechend sehen die Gebisse aus, schon manche Sechsjährige haben neben tief zerstörten Michzähnen schon massive Schäden an den Sechsern. Unter der armen Landbevölkerung gibt es Familien, die keine Zahnbürsten besitzen.
Nun, dafür setzen wir uns ja ein, betreiben Aufklärung und Behandlung der Schäden. Seit zwei Jahren ist dem Consultorio (der Zahnarztpraxis) ein zahntechnisches Labor angegliedert, in dem „Placas“, Kunststoffprothesen hergestellt werden. Die Ausstattung mit Abdampfgerät, Trimmer, Drucktopf, Lichtpolymerisationsgerät, Absauganlage usw. ist dafür ist komplett eingerichtet. Die Patienten sind für diese Art Zahnersatz überaus dankbar, besonders wenn Frontzahnlücken damit geschlossen werden können.
Mein Vorgänger, Siegbert, hat mich an einem Wochenende vorher ausführlich in die Besonderheiten der Behandlungseinheit und mögliche technische Fehlerursachen eingewiesen. Wir hatten allerdings keinerlei technische Ausfälle im Consultorio und konnten mit seinem Team, ergänzt durch die Zahntechnikerin Maike die ganze Zeit problemlos arbeiten.
Ein großes Hallo und freudige Umarmung von Doña Adela gab es bei meinem Eintreffen in Huancarani, denn sie hatte mich von 2016 noch in guter Erinnerung. Sie ist die gute Seele für uns Voluntarios, sie kocht zwei warme Mahlzeiten am Tag, immer auch mit Gemüse und Obst aus ihrem privaten Garten oder von den Ackerflächen der Pirwa, der Schweizer Stiftung, natürlich alles Bio und unbehandelt. Sie putzt auch jeden Morgen in aller Frühe die Fußböden des Consultorios. Im Eingangsbereich auf dem Gelände der „Pirwa“ und im kleinen Privatgarten von Adela hinter dem Haus sind jetzt eine Reihe von Orangenbäumen gepflanzt worden, was nach dem Abräumen von Bauschutt und Steinen vom Umbau vielleicht mal ein kleines Paradies mit viel Grün und wieder schattigen Sitzplätzen für die Mittagspause werden könnte.
Einmal hat Adela den (weiblichen) Voluntarias sogar erlaubt, ihren Kleiderschrank für eine indigene Modenschau zu plündern. Zu unserem Viererteam (ZA Herbert, ZÄ Priscilia, DH Aline und ZT Maike) gesellte sich noch die Schweizerin Jana, die fast ein Jahr in der Pirwa für die Kinderbetreuung tätig war und und kurzzeitig eine Freundin von Maike sowie Alines Mutter aus Paraguay. Sie alle durften Adelas zahlreiche Röcke und Oberteile anziehen und Tragetücher umlegen. Sofern es die eigene Frisur her gab, wurden bei jeder „Bolivianerin“ zwei lange Zöpfe nach hinten geflochten und bei manchen ein Tragetuch auf den Rücken mit einem Babyersatz gefüllt. Es war überaus lustig und wir hatten viel Spaß. Aline, mit ihrem dunklen Teint und den kräftigen langen schwarzen Haaren, hätte jeder für eine bolivianische Indigena gehalten.
Unsere DH Aline, mit ihrem paraguayischen Background hatte übrigens auch das Privileg, den nagelneuen Prophylaxe-Raum, „la Sala de Limpieza“, zwar noch mit einer Schreibtischlampe als Lichtquelle versehen, einzuweihen, mit Leben zu füllen und als erste darin zu arbeiten, nachdem ein stabiler Behandlerstuhl geliefert wurde. Das hat sie auch in ihrer erfrischenden Art mit viel Elan und Engagement erfolgreich getan, denn sie spricht aufgrund ihrer Herkunft perfekt Spanisch und konnte deshalb Putzunterweisungen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen sehr gut „rüberbringen“. Ähnlich gut konnte meine junge Kollegin, die Zahnärztin Priscilia, mit den Patienten kommunizieren. Sie hat ebenfalls südamerikanische Wurzeln (Argentinien). Mit sehr viel Geduld und Einfühlungsvermögen hat sie Kinderbehandlungen und Füllungen bei Kindern und Erwachsenen durchgeführt, während ich kompliziertere Füllungen, Extraktionen (oft als Osteotomien) und Zahnersatzmaßnahmen vorgenommen hatte.
Die vierte in unserem fröhlichen Team war ZT Maike, die im Labor fleißig „Placas“ herstellte. Damit sie nicht so allein vor sich hin arbeiten musste und tagsüber etwas Abwechslung erhielt, haben wir sie bei interessanten Behandlungen und Zahnersatzplanungen, Bissnahmen und Einproben ins Consultorio geholt. Mitunter mussten wir bei jahrzehntelang vorhandenen Lücken elongierte Zähne drastisch einschleifen, um überhaupt genügend Platz für einen Lückenersatz zu haben. Die Situationen im Mund von Patienten bekommen Zahntechniker(innen) in gewerblichen Labors praktisch nie zu sehen, deshalb war Maike sehr froh darüber, dass wir sie immer wieder mal ins Consultorio geholt haben.
Wochenendausflüge zu den attraktiven Städten, Sehenswürdigkeiten und Nationalparks Boliviens, um Land und Leute kennenzulernen, kamen natürlich nicht zu kurz. So war eine Gruppe am Titicacasee, ein anderes Mal mutig mit Mountainbikes die Death Road, „el Camino del Muerte“ bergab gedüst, Maike leistete mir zweimal Gesellschaft, einmal im Chapare, in Villa Tunari, wo wir mit dem tropischen Regenwald Bekanntschaft gemacht haben. Dieser hatte an jenem Wochenende seinem Namen alle Ehre gemacht, zudem wurden wir von unserem Dschungel-Führer José auch noch dreimal bis ans Gesäß tief durch die braunen Wassermassen eines Flusses geführt. Mangels regendichter Ponchos hieb er mit seiner Machete einige großes Bananenblätter ab und gab sie uns als Schirmersatz. Unsere illustre Gruppe zu der auch drei Franzosen und eine Schweizerin gehörte, hatte viel Spaß dabei. Auf dieser viereinhalbstündigen Tour hat uns unser erfahrener „Guia“ José allerhand gezeigt, von exotischen essbaren Früchten, die uns völlig unbekannt waren bis zu legalen und illegalen Coca-Plantagen. Trotz nasser Klamotten war es schönes Wochenende, denn wir konnten uns im Hotel „El Mirador“ wieder trocknen, im (kleinen) Pool erfrischen, in einer Hängematte auf der überdachten Terrasse entspannen und typische, schmackhafte Gerichte in den preiswerten Restaurants von Villa Tunari genießen.
Ein anderes Wochenende verbrachten wir in Sucre und Potosí, beides sehr schöne alte Städte, der historische Stadtkern jeweils im kolonialen Baustil und Unesco-Weltkulturerbe. In Potosí haben wir die alte Münzprägeanstalt „Casa de la Moneda“ besichtigt und eine mehrstündige Minentour auf einer Höhe über 4000 m in die Bergwerksstollen des „Cerro Rico“ gemacht, in dem die Spanier schon vor 400 Jahren Silbererze durch Einheimische herausholen und schwer schuften ließen. Das letzte Wochenende verbrachte ich allein am traumhaften Titicacasee mit einer Übernachtung auf der Isla del Sol (ebenfalls rund 4000 m hoch), Besuch der Isla de la Luna und mehrerer hoch interessanter Inka-Heiligtümer.
Zum Ende meines Aufenthaltes hatten wir Doña Adela ein außergewöhnliches Geschenk gemacht: eine vollständige Küchenrenovierung. Die kleine Küche hatte keinerlei Schränke, nur einen Spültisch und in einer Ecke ein kleines Regal und war nach 5 Jahren (Adela möge mir verzeihen) ziemlich „schmuddelig“ geworden. Nach zwei fröhlichen Abenden war die Küche frisch gestrichen und 6 neue Regale montiert. Dona Adela haben wir in ihrer „neuen“ Küche selten so strahlen sehen. Ein glücklicher Zufall war es außerdem, dass genau in diesen Tagen, an denen Adela nicht kochen konnte, Alines Mutter zu Besuch war und für uns alle in der Küche der Pirwa-Wohnung paraguayisch leckere Gerichte zubereitete.
Die Arbeit im Consultorio im Team mit jungen „dentistas“ und „asistentes“ zu arbeiten, denen man Tipps und Tricks aus einer langen Berufserfahrung gern weitergibt, hat mir große Freude und innere Zufriedenheit bereitet. Die Patienten nehmen ganz geduldig längere Wartezeiten in Kauf (oft kommen sie mit mehreren Familienangehörigen) und sind sehr dankbar für Schmerzfreiheit oder glückliches Lächeln mit ihrem neuen Zahnersatz, was sie mitunter durch eine herzliche Umarmung ausdrücken. Zudem ist Dona Adela eine so liebenswerte Person und eine gute Köchin für die Voluntarios, die alle schnell in ihr Herz geschlossen haben. Schließlich bietet auch das Land Bolivien selbst so viele sehenswerte Landschaften und Städte, dass ich jetzt schon weiß: ich komme nicht nur vielleicht sondern ganz sicher wieder.
Ein Einsatz in Lateinamerika für den FCSM ist eine lohnenswerte Sache für alle, die mal in eine neue Welt eintauchen und vor allem aber bereit sind, etwas von ihrem Glück und ihrem Erfolg weitergeben wollen an wirklich bedürftige Menschen, die sich keine Zahnbehandlung leisten können.
Bolivia te espera! Dr. Herbert Adler