Petrow, Eugen - FCSM-WEB-Seite

Direkt zum Seiteninhalt

Petrow, Eugen

Erfahrungsberichte > Archiv
Huancarani, 21.10. - 08.11.2019
Seit einiger Zeit dachte ich schon darüber nach, mein angelerntes Wissen und Können für einen guten Zweck zu nutzen und dabei bedürftigen Menschen zu helfen. Dieses Jahr setzte ich meine Idee endlich in die Tat um, indem ich mich für einen dreiwöchigen Hilfseinsatz in Huancarani/Bolivien bewarb. Die Freude war groß, als ich bereits wenige Tage später eine positive Rückmeldung erhielt. Dank der zahlreichen Informationen und Erfahrungsberichte auf der Internetseite sowie dem Info-Paket per Email war man perfekt auf die Reise vorbereitet. An dieser Stelle möchte ich ein großes Lob an Ekkehard und sein Team für die tolle Organisation und die vielen Tipps, vor und während meines Aufenthalts in Bolivien, aussprechen!
Pia, ebenfalls deutsche Zahnärztin, war bereits einige Zeit vor mir im Projekt. Als ich Mitte Oktober meine Reise antrat und in Bolivien ankam, wurde mir das Einfinden somit sehr erleichtert. Pia konnte mich sehr gut in die verschiedenen Abläufe einweisen, sodass sich bereits nach wenigen Tagen eine gewisse Routine einstellte.
PRAXIS UND ALLTAG
Den Tag starteten wir immer mit einem ausgiebigen Frühstück samt frischem Obst. Bereits am frühen Morgen sorgte der strahlende Sonnenschein für angenehm warme Temperaturen. Anschließend begaben wir uns in das Consultorio, um die sterilisierten Instrumente einzusortieren und um Verbrauchsmaterialien aufzufüllen. Entgegen meiner Erwartungen war die Zahnarztpraxis sehr gut ausgestattet: so war ein elektrisches Längenmessgerät, mehrere Teilmatrizensysteme, KoDa, chirurgische Instrumentarien bis hin zu diversen Modellierinstrumente alles vorhanden. Allerdings gingen uns am Ende meines Aufenthalts einige Verbrauchsmaterialien und Medikamente aus, die wir dann bei Ronald, dem Leiter des Projekts vor Ort, angefordert haben.
Die brasilianische Behandlungseinheit ist etwas älter und hat ihre Eigenheiten: gelegentlich tropft es, ein Motor fällt aus, die Lichtintensität schwankt häufig und ab und zu kam es zu Problemen mit dem Druck oder der Absaugung – ansonsten verrichtet die Einheit aber ihren Dienst. Glücklicherweise ist die Technik einfach zu warten, da man so ziemlich alles aufschrauben und nachsehen kann, worin das Problem liegt. Der Tag endete immer damit, dass alle benutzten Instrumente gereinigt und sterilisiert sowie die Behandlungen dokumentiert wurden.
PATIENTEN
Die Anzahl der Patienten war unvorhersehbar. An manchen Tagen kam der erste Patient erst im Laufe des Vormittags; an anderen Tagen standen beim Aufschließen der Praxis bereits acht Patienten vor der Tür. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass vor allem montags und dienstags immer etwas mehr los war.
Für viele Bolivianer war der Besuch im Consultorio oft der erste Zahnarztbesuch in ihrem Leben - so wussten sie z.T. gar nicht wie man sich auf den Behandlungsstuhl setzt oder zogen sich die Schuhe aus, bevor sie Platz nahmen. Die meisten Patienten hatten ein konkretes Anliegen - meistens Schmerzen oder Karies. Leider kamen viele der Patienten erst dann, wenn auch die Front beteiligt war und das Problem „sichtbar“ geworden ist. Die Seitenzähne waren dann häufig leider schon so sehr zerstört, dass eine Rettung dieser Zähne nicht mehr möglich war (und teils auch gar nicht gewollt war). Unsere Aufgabe bestand darin, erstmal aufzuklären, dass es nicht ausreicht sich lediglich um den Zahn zu kümmern, der aktuell Probleme macht. Vielmehr versuchten wir, die Patienten von der Wichtigkeit eines Gesamtkonzepts zu überzeugen. Obwohl wir stets darauf hinwiesen, wie wichtig ein Wiederkommen ist, konnte man mit einem Wiedererscheinen in der Regel nicht rechnen. So kam es vor, dass einige Patienten zur Naht-Ex nicht erschienen, immer noch nur mit einer Med-Einlage versorgt waren oder die Placa (Interims) nicht abgeholt wurde. Aus diesem Grund versuchten wir so viel wie möglich in einer Sitzung zu schaffen oder zumindest quadrantenweise zu behandeln. Anm.d.Red.: So steht es in den Richtlinien: Der Zahn muss in derselben Sitzung fertiggestellt werden, also keine med und schon gar keine Gangrän-Behandlung!
Umso erfreulicher war es dann, ab und zu Patienten zu sehen, die durchtherapiert waren und nur zur Kontrolle und Zahnreinigung kamen. In solchen Fällen wurde mir am meisten bewusst, wie sinnvoll die Zeit ist, die man im Projekt verbringt.
Erschreckend für mich war jedoch der Gebisszustand der Kinder: Unter den vielen zerstörten Zähnen waren auch nicht selten bleibende Zähne stark betroffen. Bei der Behandlung der Kinder ist mir eine Situation besonders in Erinnerung geblieben: Eine Mutter erschien mit ihrem Kind zur Behandlung. Während wir die Mutter behandelten, naschte das Kind die ganze Zeit verschiedene Süßigkeiten und trank mit einem Strohhalm süßen Pfirsichsaft aus der Plastiktüte – ein Getränk, das in Bolivien sehr beliebt ist. Ich habe die Mutter darauf hingewiesen, dass in all diesen Lebensmitteln sehr viel Zucker enthalten ist und dies schlecht für die Zähne sei, zumal das Kind bereits sehr viel Karies hatte. Die Mutter war sehr überrascht, da ihr gar nicht klar war, dass durch Zuckerkonsum Karies entsteht - ich war ebenfalls überrascht, da in Deutschland bereits jedes Kind weiß, dass Zucker u.a. verantwortlich für Karies ist.
Donnerstag vormittags kamen dann 10 bis 15 Kinder aus dem Kinderheim. Dabei versuchten wir möglichst schnell und möglichst alles in einem Rutsch zu behandeln. Auch hier - sehr viel Karies und oft auch tief!
Ansonsten möchte ich betonen, dass ausnahmslos alle Patienten sehr lieb und geduldig waren. Auch längere Wartezeiten hatten kaum Auswirkung auf die Fröhlichkeit der Patienten. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass bei den Bolivianern eine ganz andere Schmerzkultur vorherrscht, sodass vieles ohne eine Anästhesie durchgeführt werden konnte.
 
Durch die Zeit in Bolivien ist mir aufgefallen, wie viele Dinge für uns in Deutschland selbstverständlich sind. Eine ausführliche Aufklärung, regelmäßige Kontrolluntersuchung, Prophylaxe - all das ist ein Privileg, das wir uns jeden Tag vergegenwärtigen sollten. Hinzu kommt, dass für uns deutsche Zahnärzte eine gut ausgestattete Praxis, funktionierende Behandlungsstühle, EDV und genügend Verbrauchsmaterialien Alltag sind. Durch meine Zeit in Bolivien habe ich einmal mehr gelernt, sparsam und behutsam mit den vorhandenen Dingen umzugehen
 
SONSTIGES
Huancarani ist ein kleines Dorf, das ungefähr 28 km vom Flughafen entfernt liegt. Außer ein paar Kiosken mit begrenzter Auswahl gibt es dort nicht viel zu sehen. Gewohnt wird in einer netten Wohnung über der Praxis, die mit dem Notwendigen ausgestattet ist. Mittags und abends gab es an den Arbeitstagen immer wirklich frisches und lecker zubereitetes Essen von Doña Adela. Sie gibt sich sehr viel Mühe und geht auch auf Vorlieben ein. Neben Doña Adela standen uns auch ihre Söhne Will und Henry täglich als Ansprechpartner zur Verfügung. Die Drei unternahmen wirklich alles, um uns unseren Aufenthalt so schön wie möglich zu gestalten!
Anders als in den Städten, sind die Hunde im Dorf noch dazu da, das Gelände des Besitzers zu bewachen. So bellen die Hunde einen häufig beim Vorbeigehen an oder nähern sich auf bedrohliche Art und Weise. Um sich zu schützen, hilft es einen Stein in die Hand zu nehmen und so tun, als würde man ihn werfen.
In Huancarani und Umgebung spricht kaum einer englisch. Daher würde ich jedem raten, sich vor dem Aufenthalt etwas Spanisch anzueignen. Es gibt auch so gut wie keine Supermärkte - die Bolivianer kaufen ihre Lebensmittel auf verschiedenen Märkten ein. Da auf solchen Märkten keine Preise festgelegt und ausgeschrieben werden, sollte man sich als Deutscher vor der Reise über die bolivianischen Lebensmittelpreise informieren, um nicht zu viel zu zahlen.
Zum Thema Mobilität lässt sich sagen, dass man zwar sehr günstig mit Taxis, Bussen oder Trufis (kleine Transport-Busse) fahren kann, dieser Transport aber für deutsche Verhältnisse etwas chaotisch abläuft.  
Als letzten Punkt zum alltäglichen Leben möchte ich die derzeitige politische Lage in Bolivien thematisieren. Trotz der vielen Unruhen gab es keine einzige Situation, in der ich ernsthaft Sorge um meine Sicherheit hatte. Die Menschen waren ausnahmslos freundlich, hilfsbereit und verständnisvoll.
Krönender Abschluss meines Aufenthalts war ein großes Barbecue mit Doña Adela‘s Familie, Pia, Ronald und Thika - was mir die Abreise nicht einfacher gemacht hat.
WOCHENENDEN
Die Wochenenden nutzte ich dafür, das Land Bolivien besser kennenzulernen: Ich reiste u.a. zur Salzwüste (Salar de Uyuni), zum Camino del muerte (Death Road), nach La Paz und Santa Cruz. Eine ganz besondere Erfahrung war außerdem das Bergsteigen auf den Huayna Potosí – ein vergletscherter Berggipfel in den Anden, der stolze 6.088 m hoch ist. Obwohl ich ausnahmslos alle Ausflüge sehr empfehlen kann, war mein persönlicher Höhepunkt die Tour durch die Salzwüste. Es gibt übrigens genügend Touranbieter vor Ort, sodass man auch noch sehr kurzfristig am Abend vorher, eine Tour buchen kann.
FAZIT
Die drei Wochen Hilfseinsatz in Bolivien waren für mich zahnmedizinisch, menschlich und kulturell eine tolle Erfahrung. Ich kann nur jeden dazu ermutigen, dieses Abenteuer einzugehen!
Leider ging die Zeit viel zu schnell vorbei, sodass ich bei meiner Abreise gerne noch länger geblieben wäre. Vieles was ich gesehen und erlebt habe, hat bei mir eine nachhaltige Wirkung hinterlassen und meine Sicht auf einige Dinge verändert.
Zahnmedizinisch lautet mein Urteil, dass es in Bolivien noch vielerorts an Aufklärung fehlt und noch deutlich mehr Prophylaxe erfolgen muss. Für mich steht daher jetzt schon klar, dass dies sicherlich nicht mein letzter Hilfseinsatz war.
Eugen Petrow
Zurück zum Seiteninhalt