Fessler, Erwin
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Huancarani, 27.September bis 28. Oktober 2022
Wer sich aus dem bürokratischen Dickicht der deutschen
Kassen - und Privatzahnheilkunde in die Unkompliziertheit bolivianischer
Tätigkeit am Behandlungsstuhl begeben möchte, dem empfehle ich eine Tätigkeit
in Huancarani.
Für meine fünfwöchige Behandlungszeit war es ein Déjà-Vu: Zahnmedizin wie vor 42 Jahren zu Beginn meiner
zahnärztlichen Karriere.
Dennoch herrscht in der Praxis, die mit zwei Stühlen
betrieben wird, ein sehr gutes Hygienekonzept. Alle Instrumente werden
sterilisiert, die chirurgischen eingeschweißt und Helfer Henry erfasst die
Patienten und Behandlungen per EDV. Die Behandlungszeiten sind von 8:30 Uhr bis
12:00 Uhr und von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Am Montag beginnen wir ab 14:00 Uhr.
Dankbare Patienten, die morgens um 6:30 h, als ich vom Joggen zurückkomme,
bereits seit 2 Stunden geduldig vor der Türe warten.
Wir, das sind zwei deutsche Jungzahnärztinnen, die eben ihr
Examen hinter sich haben und ich als Senior mit Erfahrung und deren Backup. Der
Gebißzustand der vorwiegend indigenen Bevölkerung hier in der Gegend und in Gesamt
- Bolivien ist mit einer Kariesrate von 95 Prozent entsprechend schlecht. In
fünf Wochen sehe ich gerade mal ein Gebiß, das kariesfrei ist, viele abradiert,
doch parodontal geschädigt kein einziges. So extrahiere ich in dieser Zeit mehr
als 100 Zähne und Wurzelreste, lege unzählige Tapas (Kst- Füllungen,
LED-ausgehärtet) und dank der Anwesenheit der beiden frischgebackenen
Zahntechnikmeister Ann-Kathrin und Tristan können wir viele Patienten mit
placas (Kunststoff-Prothesen) versorgen. Die Preise sind moderat: umgerechnet
1,50 € für eine Füllung, bzw. Extraktion inkl. Anästhesie, Prothesen ab 10 €.
Entsprechend ist auch der Ansturm der Patienten, die geduldig die Mittagspause
über warten, wenn sie vormittags nicht drankommen. Für die Endobehandlung
einwurzeliger Zähne steht ein modernes Reziprok- Gerät zur Verfügung.
Doña Adela, die gute Seele des Hauses bekocht uns mittags
und abends vorwiegend vegetarisch mit Produkten aus ihrem Garten. Wir wohnen
über der Praxis in einer WG. Jede(r) hat sein (ihr) eigenes Zimmer. Zum
Frühstück- das wir selber zubereiten- stehen Ananas, Mangos, Papayas,
Maracujas, Avocados usw. auf dem Tisch. Die Praxis liegt etwa 12 km entfernt
von Quillacollo, einer kleinen Stadt, die wiederum nur 14 km von Cochabamba
entfernt ist. Innerhalb von Minuten ist man für 30 Cent per Trufi (Minibus) in
der Stadt, die alles bereithält was man zum täglichen Leben braucht.
Die Wochenenden verbringen wir gemeinsam auf Ausflügen. So
z.B. in Totora, wo wir die Attraktion einer bolivianischen Hochzeit sind, dem
Bräutigam Geldscheine ans Revers heften und dafür mit Unmengen Konfetti
überschüttet werden. Mit Lea und einem einheimischen Führer besteige ich den
5004 Meter hohen Pico Tunari und esse auf 4200 Metern Höhe bei Don Jaime im
open-air - Restaurant die beste Forelle meines Lebens. Im Berghotelcarolina,
das wie ein Adlernest auf knapp 3000 Metern klebt und das das
zweiradangetrieben Taxi wegen der
Steilheit des Weges kaum erreicht, werde ich von Bastian Müller und seiner Frau
Carolina in alpenländischem Ambiente verwöhnt.
Meiner Tätigkeit schließt sich eine 16- tägige Rundreise an.
Die herrliche weiße Hauptstadt Sucre, Tarabuco mit seinem Sonntagsmarkt, den
tausende Indios besuchen. Potosi die ehemalige reichste Stadt der Welt, wo die
Spanier im 16.Jahrhundert das Silber von der Straße schaufelten. Der Cierro
Rico, der Silberberg gleicht einem Schweizer Käse. Derart durchhöhlt arbeiten
heute noch Mineure im Berg und wir kaufen Dynamitstangen und Zündschnüre, um
sie den Arbeitern bei unserem Besuch im Stollen zu schenken.
Dann Uyuni, mit seinem größten Salzsee der Welt; ein Tagesausflug
mit dem Toyota Landcruiser über kaum befahrbare „Straßen“ bis zu den Flamingos
der Salzlagunen an der chilenischen Grenze, umgeben von 6000ern mit ihren
Schneekappen.
Das unglaubliche La Paz mit seinen über 2 Millionen
Menschen, die an den steilen Hängen auf 4000 Metern Höhe leben. Bestes
Fortbewegungsmittel sind die 11 Linien der modernsten Doppelmayr-Umlaufgondeln.
Die Carretera de la Muerte , die Todesstrasse, die auf 4500 Metern Höhe
beginnt, lädt mich ein, auf 50 Kilometern rund 3300 Höhenmeter mit dem
Downhill- Mountainbike überwiegend auf Schotter abzufahren und unten angekommen,
im Dschungel im Pool zu baden.
Der auf fast 4000 Meter hoch gelegene Titicacasee - fast 16
mal so groß wie der Bodensee- mit seiner Isla del Sol ist ebenso ein Besuch
wert. Von La Paz aus fahren wir für 4,50 € die 150 Bus-Kilometer an dessen Strand.
Freundliche Menschen, eine überwältigende Natur, billige Verkehrsmittel,
tropische Früchte machen Bolivien zu einem wunderbaren Erlebnis.
Wenn man dann noch Spanisch spricht, tut man sich leicht.
Mit Englisch wissen die Bolivianer nichts anzufangen.
Dr. Erwin Fessler