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Adler, Herbert

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Huancarani, 19. März bis 23. April 2016
 
 
Am Montag, den 28. April 2016 begann ich meine vierwöchige Tätigkeit im Consultorio des FCSM in Huancarani zeitgleich mit dem jungen Zahntechniker Jan, nachdem wir gemeinsam aus unserer süddeutschen Heimat (via Zürich und Madrid)  nach Bolivien geflogen sind. In der Woche vor unserem Einsatz waren wir beide in der Sprachschule Runawasi, Cochabamba, einer gut strukturierten Sprachschule mit Einzelunterricht und Unterbringung und Verpflegung in einer Gastfamilie in der Nähe der Escuela.
 
 
Von Gründonnerstag bis Ostermontag (in der Karwoche „Semana Santa“ ist die Praxis geschlossen) hatte meine junge Kollegin Juliane für uns eine Exkursion in den Salar de Uyuni und in die Bergwelt im Süden Boliviens gebucht. Der Salar, der größte Salzsee der Welt und das eindrucksvollste Ziel für Bolivienreisende, liegt auf einer Höhe von 3653 m und hat eine Fläche von 10.500 qkm.
 Nicht weniger attraktiv ist weiter im Süden die bezaubernde Welt der Lagunen mit den zahllosen Flamingos, den Lamas und Vicuñas sowie den Zeichen des aktiven Vulkanismus, Fumarolen, die wir bis auf eine Höhe von knapp 5000 m mit dem Geländewagen erkunden konnten.
Juliane war zu dem Zeitpunkt schon drei Wochen vor Ort und machte mich mit den Geräten und Arbeitsabläufen vertraut. Die brasilianische Behandlungseinheit ist technisch einfach und unkompliziert konstruiert. Dennoch habe ich in der ersten Woche mit einem ständig tropfenden pneumatischen Ventil gekämpft und es schließlich mit einer nicht benötigten, viel zu dicken Arterienklemme abgeklemmt und überbrückt. Mit einer der Turbinen, die nur eine Spraydüse hatte, war dann auch eine für mich ausreichende Sprayleistung möglich.
Just zu dem Zeitpunkt als ich ein deutsches Ehepaar, das in Bolivien lebt und sich für die NGO-Organisation „Agroforst“ engagiert, behandeln wollte, gab es einen halbstündigen Stromausfall. Da aber alle Teile der Einheit luftdruckgesteuert bzw. per Druckluft angetrieben werden und der Kompressor noch gut gefüllt war, konnte ich mit Stirnlampe sofort weiterbehandeln.
Besonders vorteilhaft für den Kontakt mit den Patienten war natürlich die Tatsache, dass Juliane in Spanien aufgewachsen und Spanisch ihre erste Muttersprache ist. Im Übrigen wurde von meinem Vorgänger Siegbert durch Handzettel bekannt, dass ab sofort auch „Placas“ (Platten, Kunststoffprothesen, für deutsche Verhältnisse Interimsprothesen) hergestellt werden können. So lagen schon für Jan zwei Modelle für die erste Arbeit im wenige Wochen vorher fertiggestellten Labor bereit. Mit dem von mir im Auftrag von Ekkehard Schlichtenhorst mitgebrachten Dampfstrahlgerät wurde das „Laboratorio“ weiter komplettiert und am dritten Tag hatte unser Techniker Jan bereits 5 „Placa“-Aufträge.
Anja, die seit Januar, von der Pirwa freigestellt und gut Spanisch spricht, hat uns Zahnärzte als angelernte Assistenz sehr unterstützt. Zusammen mit ihr und Jan waren wir ein starkes Viererteam und haben sehr rationell, routiniert und effektiv behandelt.
Das haben die Leute hier gespürt und durch Mund- zu Mundpropaganda war die Nachfrage schon nach wenigen Tagen sehr groß. Als dann auch noch die Schuldirektorin der Schule am Ort uns vormittags insgesamt 12 Schulklassen mit je 25 – 30 Schülern zur Reihenuntersuchung schickte, waren wir auch nachmittags voll ausgelastet. Besonders deshalb, weil wir den Kindern Zettel für die Eltern mit Behandlungsnotwendigkeit mitgegeben haben. Schon am zweiten Tag haben wir das Verteilen von Handzetteln aufgegeben, auf denen neuerdings auch auf die Herstellung von „Placas“ hingewiesen wird.
Ich habe hier überwiegend Kompositfüllungen gelegt, manchmal auch Amalgam, machte Zahnreinigungen, ein paar Wurzelfüllungen (Raypex und Röntgen vorhanden) und zwei Abszesseröffnungen und  und vor allem sehr viele Extraktionen bei Kindern und Erwachsenen. Von den 275 Schülern, die wir untersucht haben, hatten nur zwei ein gesundes, kariesfreies Gebiss!
Die untersuchten Kinder bekamen in kleinen Gruppen eine Zahnpflegeaufklärung und eine Zahnbürste geschenkt, auf die sie sehr stolz waren.
Ich wusste, wie es hier um die Zahngesundheit bestellt ist, aber es war doch immer wieder erschreckend, wie groß das Ausmaß der Zerstörung der Gebisse, vor allem von Kindern, ist. Coca-Cola, süße Getränke mit Fruchtgeschmack (in Zwei- und Dreiliter-PET-Flaschen) und diverse Süßigkeiten gibt es an jeder Ecke, sogar in den Schulen, zu kaufen. Auf den Märkten und an Straßenkreuzungen werden auch kleine Schlauchbeutel mit süßer, roter Gelatine angeboten. Hier auf dem Land sind Familien mit  3 - 4 Kindern die Regel, die Mütter oft überfordert und hinsichtlich Zahnpflege selbst nicht aufgeklärt. Zahnbürsten für die Kinder sind in den Familien oft nicht vorhanden. Bolivien ist eines der ärmsten Länder Südamerikas, wo weder ein staatliches Gesundheitswesen noch eine schulische Gesundheitsaufklärung existiert. Entsprechend sind tief zerstörte Milchzähne und bleibende Backenzähne an der Tagesordnung.
Wir haben uns bei den Kindern vor allem um die bleibenden Sechser gekümmert mit Füllungen und erweiterten Fissurenversiegelungen. Dennoch musste ich sogar bei einem siebenjährigen Kind einen tief zerstörten Sechsjahrmolar extrahieren, der gerade mal ein Jahr vorher durchgebrochen war. Während Juliane sich eher um die Prophylaxe und die Kinderbehandlung kümmerte, habe ich die Extraktionen und Osteotomien vorgenommen. Die dünnen Lindemannfräsen, die ich mitgebracht hatte, waren sehr oft im Einsatz, da viele tief zerstörte Zähne mit (Wurzel-)Zange nicht zu greifen waren. Diese Aufgabenteilung und der Erfahrungsaustausch zwischen einem jungen Zahnarzt/einer jungen Zahnärztin und einem/einer erfahrenen Kollegen/Kollegin hat sich nicht nur in unserem Fall sehr gut bewährt.
Es bietet sich daher für für frisch examinierte Kolleg(inn)en geradezu an, nach dem Examensstress eine ganz andere Welt, Land und Leute auf einem anderen Kontinent kennenzulernen und praktische Berufserfahrung zu sammeln.
Etwas Abenteurlust und Spanischkenntnisse sollte man allerdings mitbringen bzw. zur Vorbereitung 1 – 2 Wochen einen Kurs in Cochabamba besuchen. Dann sind auch Gespräche mit der guten Seele dieser Einrichtung, mit Doña Adela, möglich. Sie ist eine liebenswerte, erfahrene Hausfrau und Köchin, spricht auch Quechua und hat drei erwachsene Söhne, von denen die beiden jüngeren, Henry und Wilfredo, meistens abends zu ihr zurück kommen.
Zwischen dieser Familie und uns hat sich sehr schnell ein fast familiäres Verhältnis entwickelt, besonders weil Juliane sich perfekt mit Ihnen unterhalten konnte und auch an Adelas Sorgen und Problemen Anteil nahm.
Wir saßen abends oft an dem großen Tisch zusammen, haben erzählt, gelacht und meist nebenher fern gesehen. Diese Vertrautheit mit Adela und ihrer Familie sowie das Bewusstsein, dass sie noch nicht viel von ihrer bolivianischen Heimat gesehen hat, nahmen wir zum Anlass, sie auf unserem nächsten Wochenendausflug in den Nationalpark „Torotoro“ mitzunehmen.
Sie hat sich riesig über diese Einladung gefreut und diese zwei Tage sichtlich genossen. Auch körperlich hat sie die Strapazen in der Tropfsteinhöhle und den 500 m tiefen Ab- und Aufstieg im Cañon gut gemeistert. Bei meinem Abschied am 23. April meinte sie, es würde jetzt eine sehr traurige Zeit für sie kommen.
Bolivien ist ein Land großer Gegensätze. Zwischen dem tropischen Regenwald im Osten und den 6000ern der Kordilleren mit den zum Teil noch aktiven Vulkanen im Westen liegen weitere wunderschöne Landschaften, Städte und Naturparks, von denen ich nur einen kleinen Teil gesehen habe. Dies würde ich gern nachholen. Der zweite Grund, warum ich wahrscheinlich noch einmal zurückkehren werde, ist die tiefe, herzliche Dankbarkeit der Patienten für schonende Extraktionen, Füllungen oder für eine Versorgung mit einer Prothese.
Nicht vergessen werde ich das etwa neunjährige Mädchen, das bei mir in Behandlung war und mit dem ich am Tag vor meiner Abreise auf dem Weg zur Hauptstraße ein kurzes Gespräch führte. Ich sagte ihm, dass ich morgen schon im Avion nach Alemania sitze. Da schenkte es mir spontan seine Mandarine, die ihm die Mutter mitgegeben hatte.
Solche herzergreifende Szenen, ein dankbares Lächeln oder eine Umarmung eines Patienten, dem die fehlenden Frontzähne ersetzt wurden, sind der Lohn für uns Volontarios aus dem Land des Wohlstands und der sozialen Sicherheit. Es ist ein schönes Gefühl, Menschen in einem Land der „Dritten“ Welt (zahn)ärztliche Hilfe geben zu können, die ihnen sonst niemand gibt oder die sie sich normalerweise nicht leisten können.
Dr. Herbert Adler mit Juliane Kraft
und ZT Jan Viergutz
23.04.2016
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