Schlichtenhorst Ekkehard M - FCSM-WEB-Seite

Direkt zum Seiteninhalt

Schlichtenhorst Ekkehard M

Erfahrungsberichte > Archiv
Mytilini / Lesbos 06.-27.11.2020
"Karge Nahrung und Schutz suchend, so kam ich her…" Alkaios, Lyriker aus Lesbos, geschrieben im Exil, ca 600 v. Chr.
Schon bevor das Flüchtlingscamp Moria abgebrannt war, hatte ich mich fuer einen Hilfseinsatz dort beworben. Die Presseberichte und vor Allem die verstörenden Bilder hatten mich bewogen, ein wenig Hilfe anzubieten, zumal die Ärzteteams mit den "Zahnpatienten" so hilflos waren.
Dann kam der Brand, ein neues Zeltlager nahe der Inselhauptstadt Mytilini, viele Flüchtlinge wurden ausquartiert, aber für die verbleibenden 10.000 letztlich keine Besserung.
So landete ich kurz vor dem von der griechischen Regierung ausgerufen Lockdown auf der Insel, wo ich von der Hausgemeinschaft in der Kleovoulinshs Nr. 8 herzlich aufgenommen wurde. Dort lebe ich nun mit Carola (Italienerin, ca. 34, arbeitet in der Pädiatrie des Lagers), ihrem Freund Julian (ca. 35, Belgier mit italienischer Mutter und Vater aus Ruanda) sowie Ali (25) und seiner Schwester Yasmin, 20, (Iraner und in Moria als nunmehr Staatenlose gestrandet, aus dem Camp entlassen, weil sie als Helfer gebraucht werden, Yasmin als meine ZÄ-Helferin). Alle sind sehr liebenswürdig, hilfsbereit und zuverlässig. Die Kommunikation erfolgt auf Englisch.
Der erste Arbeitstag im Camp fiel erst einmal aus. Die Dental Clinic war anfangs in einem umgebauten Transporter untergebracht, ein Fahrzeug, das der Gesundheitsbehörde gehört und gelegentlich gebraucht wird, wenn weitere Boat-people angekommen sind, die versorgt und transportiert werden müssen. Es sollte zwar ein Container für uns aufgestellt werden, aber die Versprechen der Behörden hielten mit der Realität nicht Schritt. So mussten wir am zweiten Tag schon wieder vorzeitig zusammenpacken, weil der Wagen anderweitig gebraucht wurde.
Das Arbeiten in dem Wagen gestaltete sich naturgemäß schwierig: Es war eng, wir waren zu dritt bis fünft auf 6 qm, also wurde es bald heiß, zumal wir Kittel aus Plastikfolien tragen müssen, der Wagen stand mit ca. 10 Grad Seitenneigung schräg, eine Ordnung im Instrumentarium war nicht herzustellen, also verging viel Zeit mit der Suche nach dem gerade benötigten Instrument. Zudem hatten wir bald technische Schwierigkeiten mit der mobilen Einheit (Swiss made).
Neben Yasmin habe ich noch Elyas (Afghane, cand.med.dent.) als Helfer, die sich abwechseln (eine assistiert, der andere sucht Material bzw. Instrumente, und umgekehrt) und gleichzeitig als Übersetzer (Arabisch, Farsi u. A.) fungieren. Verantwortlich für das ganze Equipment ist Hasan (Jemenite, geb.in Saudi Arabien und von dort mit seiner Familie vertrieben), der auch die tickets für die Patienten ausgibt und vieles andere organisiert. Die Einsatzleitung liegt bei Kini, 24, Gesundheitsmanagerin (Dental Program Manager) aus London (wohnhaft seit 2 Jahren auf Lesbos). Alle Helfer sind hoch motiviert und verdienen höchste Anerkennung. Wir arbeiten dort alle im Namen der CMA (Crisis Management Association), eine griechische Organisation (gegr. 2020), die damit den bürokratischen Anforderungen des Staates entspricht und die Health Point Foundation Germany offiziell ablöst, die wiederum nun von Dental EMT vertreten wird, die letztlich den Dental Sektor organisiert und finanziert. Schon ein verwirrendes Konstrukt, das auch gewisse Zuständigkeits- Schwierigkeiten implementiert.
Was arbeiten wir dort? Es sind Füllungen zu legen, viele umfangreich und tiefreichend, sehr viele Pulpitiden (Endos können nicht durchbehandelt werden), Abszesse und Extraktionen. Es war aber auch schon einmal eine Patientin da, die ihr kerngesundes afrikanisches Gebiss kieferorthopädisch korrigieren lassen wollte, was nun ausdrücklich nicht zu unseren Aufgaben zählt.
Am Wochenende (Sa/So) haben wir frei, aber der strenge Lockdown begrenzt unsere Ambitionen, mehr von der Insel zu erkunden, aber zur Erholung sind die Tage wertvoll. Denn anstrengend ist unser Job allemal, zumal an meinem ersten Freitag hier. Es galt, afrikanische Flüchtlinge zu behandeln - lauter Extraktionen, darunter 2 Osteotomien, 5 Separationen und ein Kampf gegen stabilsten Knochen und lange Wurzeln. Danach wusste ich, was es heisst, afrikanische Wurzeln zu haben, puh, wenn ich an den Tag denke!
Unser Arbeitstag beginnt mit einem Spaziergang in die Stadt (20 Min.) zum Sappho-Place (Sappho, Lyrikerin aus Lesbos, Leiterin einer Maedchenschule und Namensgeberin der Lesbierinnen, ca. 600 v. Chr.). Dort wartet bereits Hamid (Iraner) , der uns zu dem Zeltlager Kara Tepe fährt, ca. 3 km außerhalb der Stadt. Dort kommen wir um kurz vor 9 Uhr an, bereiten unsere Dental Clinic vor und dann starten wir recht bald. Mittags pausieren wir für ca. ½ Stunde und essen unser angeliefertes Sandwich, dann geht es weiter bis ca. 17 Uhr - wenn nichts dazwischen kommt. An manchen Tagen besuchen wir das Aussenlager Tapuat, das wenige km hinter dem abgebrannten Moria-Lager liegt. Dort sind ca. 150 Flüchtlinge, ausschließlich Frauen und Kinder, davon rund 100 aus Afrika, deutlich besser untergebracht in einer Schule - und dort begegnet uns eine ganz andere Welt - und ein schwer bezwingbares Wurzelwerk!
 
Zur Situation im Camp: Man kann sich vorstellen, dass das Leben in einem Camp mit beschränkten Ausgangsmöglichkeiten kein Zuckerschlecken ist, zumal es über viele Monate, manchmal Jahre, andauert. Das abgebrannte Moria-Camp lag (fast idyllisch?) im hügeligen Hinterland unter Olivenbäumen, die schrecklichen Bilder der slum-artigen Hütten sind uns allen geläufig. Aber das Zeltlager Kara Tepe ist keinesfalls besser, es liegt direkt am Meer, der z. T. heftige NO-Wind (Meltemi genannt) bläst dort mit voller Kraft (kürzlich mit 8-9 Beaufort), die Zelte stehen mit kaum 1 m Abstand in langen gestaffelten Reihen, 10.000 Menschen auf der Fläche von gut 3 Fussballplätzen, keine Privatsphäre, einfachste Sanitäreinrichtungen (und davon zu wenige), Stromausfälle, kein Baum, kein Strauch. Die Zelte haben jetzt noch zusätzliche Planen bekommen, da viele nicht wasserdicht waren (zum Glück regnet es hier nicht viel, aber im Winter bei unzureichenden Heizmöglichkeiten?). Die Leute laufen ständig dick eingepackt herum (auch bei 20 Grad), denn wer einmal ausgekühlt ist, wird so schnell nicht wieder warm.
 
Am schlimmsten ist die Perspektivlosigkeit der Menschen. Ihr Leben hängt von irgendwelchen Papieren ab, die erst beschafft und geprüft werden müssen, aber die griechische (auch deutsche und europäische) Bürokratie arbeitet langsam. Das Warten und Hinhalten zermürbt die Menschen, sie sehnen sich alle nach einem freien, selbstbestimmten, würdevollen Leben. Kein Wunder, dass sie sich wie Geiseln einer undurchsichtigen Übermacht vorkommen. Sie werden die Zeit im Camp ganz sicher aus ihrem Lebenslauf tilgen wollen, als eine tote Zeit ohne Erinnerungswert.
 
Ich merke das auch an den Patienten, welche Traumata sie mit sich herumschleppen (natürlich auch solche von den Fluchtwegen), sie sind kaum belastungsfähig, ängstlich und weinerlich. Ich bin nach jedem Patienten froh, wenn es keinen Zwischenfall gab (Kollaps, Schweissausbrüche, plötzliches Bauchweh, Zittern etc.), wir müssen sehr umsichtig arbeiten.
 
Die medizinische Versorgung ist - gemessen an den vielen Zelten für verschiedene NGO's unterschiedlicher Fachrichtungen und zahlreichen, vor allem jungen Helfern, wohl angemessen. Auch gibt es pädiatrische und psychologische Betreuung, für Corona-Infizierte (es wird viel getestet) ist ein eigener Quarantäne-Bereich abgegrenzt.
 
Wir sind jedoch das einzige zahnärztliche team. Durch die Corona-Situation hier wie in Deutschland ist es ungewiss, wie sich das zukünftig gestalten lässt. Ein Lichtblick ist, dass wir den versprochenen Container inzwischen bekommen haben, wir haben ihn inzwischen auch bezogen, nur muss er noch an den Strom angeschlossen werden, dann könnten auch 2 Zahnärzte hier arbeiten, zu tun gäbe es genug! Bisher leihen wir uns vom Nachbarcontainer (Labormediziner arbeiten dort) den Strom. Licht haben wir noch keines, aber die Geräte laufen, doch eine gute Stirnlampe ist vorläufig unverzichtbar.
 
Die der kleinasiatischen Küsten vorgelagerten Inseln, Lesbos, Chios und Samos blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Aus der antiken Zeit haben Sie unserer Kultur Sappho und Alkaios (Lesbos), Homer (Chios) und Pythagoras (Samos) beschert, aber Sie waren seitdem auch Schauplatz zahlreicher militärischer Gewalt (Perser, Türken) oder wirtschaftlicher Unterdrückung (Venezianer, Genueser, Römer), stets verbunden mit Zerstörung, Flucht, Vertreibung und Mord.
 
In jüngerer Geschichte hat Lesbos 1921 nach der Vertreibung der Griechen vom kleinasiatischen Festland anlässlich der Gründung des türkischen Nationalstaates 50.000 Flüchtlinge aufgenommen, man hat hier also Erfahrung mit Flüchtlingen. Noch heute - wie wir aktuell wissen - sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern angespannt.
  
Ekkehard Schlichtenhorst, Mytilini, 21.11.2020
Zurück zum Seiteninhalt